Was kann ich richten?
Menschen mit dem Charaktermuster Eins streben tendenziell nach Perfektion und Korrektheit. Sie besitzen ein inneres Regelwerk, das sich an selbst gesetzten Idealen von bspw. einer guten Gesellschaft, einem guten Arbeitnehmer oder einer guten Mutter orientiert. Ihr Handeln ist vordergründig von der Frage motiviert, was verbessert werden kann, wodurch ihre Aufmerksamkeit leicht auf Mängel und Ungereimtheiten fällt, die sie an sich selbst oder in ihrer Umwelt entdecken.
Dadurch kann ein kleines, fehlendes Gendersternchen* genauso wie allgemeine soziale Ungerechtigkeiten oder eine zu informelle Begrüßung auffallen und mit einem zornigen Hinweis versehen werden.
Je unvollkommener sie sich und ihre Umwelt empfinden – je größer der Spalt zwischen idealistischer Bestrebungen und den realen Gegebenheiten ist, desto mehr wächst ein innerer Zorn zusammen mit einem verstärkten Bedürfnis nach Kontrolle. Der vergleichsweise starke Wunsch nach Korrektheit und das grundlegende Bedürfnis, die eigenen Ideale diszipliniert zu verkörpern, lässt Menschen mit dem Charaktermuster „Eins“ eine Ernsthaftigkeit und Strenge ausstrahlen.
Können sie ihre Ambitionen der Perfektionierung nicht ausleben und weder sich, noch ihr Außen vervollkommnen, geraten sie schnell in Selbstzweifel. Dann werden die eigenen moralischen Bestrebungen infrage gestellt, an denen sie sich so sehr orientieren.
Wird dann aber auch dieser Zweifel durch ihren inneren Richter als mangelhaft bewertet, wächst die Scham und die Selbstkritik. Gleichzeitig befriedigt die Identifikation mit dem inneren Richter das eigene Kontrollbedürfnis. Denn die Be- bzw. Verurteilung geht mit einer gewissen Selbsterhöhung einher: „Ich kann Werturteile treffen!“ Auch, wenn sie gegen sich selbst gerichtet sind.
Bleibt das Kontrollbedürfnis unreflektiert, kann nur schwerlich ein ausgeglichenes Verhältnis zu anderen Bedürfnissen hergestellt werden. Denn werden die Sehnsüchte, die außerhalb der eigenen moralischen Norm liegen weder anerkannt, noch bewusst ausgelebt, entsteht ein innerer Druck, der in einer Doppelmoral, einer impulsiven Zügellosigkeit oder einer Minderung der Lebendigkeit münden kann.
Wieso betonte Selbstdisziplin eine Strategie ist, mit der Angst vor Strafe und Ablehnung umzugehen, wie man einen spielerischen Umgang mit Perfektionismus entdecken kann, wieso sich moralische Strenge nicht in Ambitionen für eine gendergerechte Sprache ausdrücken muss, werden wir in dem Kurs Charakter Fibel auf eine klar strukturierte Weise genauer betrachten.