Ist jeder seines Glückes Schmied?

Von erhöhter Selbstverantwortung zu begrenzter Freiheit. Wie Kultur unser Selbstverständnis beeinflusst.

Trauen wir uns, einen kurzen Streifzug durch die kulturelle Entwicklung und die Geschichte des menschlichen Bewusstseins zu machen. Wobei ich Bewusstsein als Antwort auf die erfahrenen Lebensumstände der Menschen verstehe. Und Bewusstwerdung als einen dynamischen Prozess, in dem immerzu Handlungsmuster reflektiert und in Abhängigkeit zu den Lebensumständen weiter entwickelt werden. 1 Dieser Ablauf ist weder auf gesellschaftlicher, noch auf individueller Ebene linear, sondern immer wieder Fort- und Rückschritten unterworfen.

Im Stamm

Zu Beginn unserer kulturhistorischen Betrachtung wächst der Mensch im engen Zusammenhang einer Gruppe von nomadischen Menschen auf, in dem die Individualität des Einzelnen im Hintergrund steht. Die größtmögliche Sicherheit vor der unberechenbaren Natur kann nur in enger Formation der Gruppe erreicht werden. Ein einzelner Mensch könnte sich in der Wildnis nicht erhalten, weshalb ein sozialer Ausschluss – zum Beispiel durch Verletzung der Stammesregeln – den sicheren Tod bedeuten würde. Auch, wenn die Kommunikation noch nicht außerordentlich differenziert ist, sind die Mitglieder in einem ständigen Austausch – sie formen eine kleine Kultur mit ihren eigenen Geboten und Verboten. Der Mensch hat demnach ein Stammesbewusstsein. 2 In der Gemeinschaft werden Rituale abgehalten, die den Mitgliedern Orientierung geben. Dabei wird der Bezug zur Umwelt, bspw. durch Opferrituale oder zur Gruppe in Form von Initiationsprozesse abgesteckt. Solche Rituale schaffen Sicherheit in einer Welt, die noch lange nicht mit einem wissenschaftlichen Bewusstsein erklärt werden kann. Alles, was der menschliche Verstand nicht begreifen kann, wird versucht durch Systeme wie dem Schamanismus oder andere Naturreligionen zu deuten. 

Erste Emanzipation

Um ca. 10.500 v.Chr. vollzieht sich die langsame Entwicklung der Lebensformen von Jägern und Sammlern zu Hirten und Bauern. 3 Die ersten landwirtschaftliche Strukturen entstehen, wodurch sich nun mehr und mehr Menschen an einen Ort binden und individuelle Besitztümer anhäufen. Mit dieser neuen Ordnung geht ein kultureller Umbruch einher. Zuvor gruppierten sich Menschen noch in größeren Familiengemeinschaften, um nicht den Kräften der Natur unterlegen zu sein. Jetzt können sie im Prozess der Sesshaftwerdung durch eine planbare Selbstversorgung vereinzelter leben.
Gewissermaßen kann dieser Schritt auch als eine erste große Individualisierung verstanden werden, da zum einen alte Stammes-gemeinschaftliche Normen und Sicherheiten aufgegeben werden und sich zum anderen eine Emanzipation von der Natur vollzieht. 4 Wurde letztere vorher noch in Demut angebetet, wird inzwischen versucht, sie durch Ackerbau und Viehzucht zu bändigen. Der Mensch entwickelt ein stärkeres Selbst-Bewusstsein und fängt an, sich unabhängiger von rigiden Stammessystemen, festgeschriebenen kollektiven Rollen und rigiden Ritualen zu erfahren. 
Auch, wenn der Mensch noch lange nicht in einer Gesellschaft lebt, die eine individuelle, narrative Freiheit fördert, hat er bereits eine höhere Selbstständigkeit als noch zuvor im Stamm.

Im größeren Konformismus

Ab ca. 3.000 v.Chr. entstehen größere Ordnungssysteme. Einzelne Familien und kleinere landwirtschaftliche Zusammenschlüsse fangen an, sich in größeren Kollektiven zu organisieren.
Das Leben bringt mehr Komplexität. Für den Menschen ergeben sich mehr Möglichkeiten der Lebensgestaltung, was zugleich auch einen Bedarf nach mehr Ordnung und Verwaltung mit sich bringt: die ersten bürokratisch-geführten Städte entstehen, in denen das soziale Miteinander wächst. Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Zielen treffen aufeinander, was Konflikte mit sich bringt. Um die größeren gesellschaftlichen Systeme aufrechtzuerhalten und störungsfrei zu halten, bedarf es umfassendere gemeinschaftliche Normen und Religionen. Denn höhere gesellschaftliche Ordnungen bedürfen kollektiver Orientierung und kultureller Verbindung. Will der Mensch in diesen größeren Gesellschaften leben, muss er sich in ihre Ordnung und Kultur fügen und die vorgeschriebenen sozialen Rollen einnehmen. Sei das in Form von Kastensystemen oder der Berufsvererbung. In dieser Zeit entwickelt der Mensch, ein konformistisches Bewusstsein 5, in dem er sich mit einer Gruppe oder einer Schicht identifiziert.

Effizienzdenken

Mit Beginn der Renaissance um etwa 1400 n. Chr. entwickelt sich der Humanismus. 6 Das Individuum rückt zunehmend in den Mittelpunkt: Das Selbstverständnis als ausschließliches Geschöpf wird um das Selbstbild des Schöpfers erweitert. Der Mensch erkundet einen immer differenzierteren Selbstausdruck, der sich bspw. in Literatur, Architektur und Malerei zeigt. Zeitgleich breitet sich mit wachsender wissenschaftlicher Erkenntnis ein Objektivismus aus und verdrängt willkürliche und unhinterfragte Gebote und Verbote. Seien diese von Kirche, Königshaus oder ersten politischen Institutionen erlassen worden. Der Glaube an die Tradition weicht dem an die Weiterentwicklung, die dem Menschen nutzen soll. „Müßiggang und Prasserei sind es, die die Menschen verderben. Darum arbeitet fleißig und lebt bescheiden….“ 7 Dieser Ausspruch des bedeutenden Reformators Johannes Calvin beschreibt die Auffassung, dass der Mensch sich für den wirtschaftlichen Erfolg nützlich machen soll. Zunehmend zeigt sich ein materialistisches Bewusstsein in der Gesellschaft. 8 Die Idee von Effizienz und Gewinn rücken stärker in das Zentrum des Denkens: der Sinn wird zunehmend in Erfolg entdeckt – man fängt an, sich über eigene Leistungen und Ergebnisse zu definieren. Zugleich rücken die Ängste vor wissenschaftlich-Unerklärlichem, vor materiellem Verlust und die Sorge vor gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit zunehmend in das menschliche Bewusstsein.

Empfindsamkeit

Mit der Entwicklung von Agrar- zu Industriestaaten gehen gesteigerter Verbrauch und gesteigerte Nachfrage einher. Und damit ein materieller Zugewinn für zunehmend mehr Menschen. Doch geht mit dem wirtschaftlichen Erhalt die Prämisse von wirtschaftlichem Wachstum einher. Der Mensch spürt sich in einer Getriebenheit und erschöpft sich in der Aufrechterhaltung seines materiellen Wohls. Die Errungenschaften und die Wachstumsmaxime des etablierten rational-materialistischen Bewusstseins werden nun hinterfragt: 

Kann das tiefe Glück wirklich im ständigen, ökonomischen Fortschritt gefunden werden? 

Immer mehr Sehnsüchte gelangen in das Bewusstsein, die über die materielle Befriedigung hinausgehen. Sinn ist nicht mehr nur der bloße Zweck. Der Mensch sucht das Glück in Erfahrung und in sich selbst. Denn er hat sich nun genug Zeit, Wohlstand und Sicherheit erarbeitet, um sich seinen Gefühlen und seinen Gedankenströmen zuzuwenden. Dabei erkennt er seine empfindsamen Seiten, tiefere Sehnsüchte und Bedürfnisse und ist geleitet von der Frage, wie er sich selbst in aller Freiheit entfalten kann. Wie er seinen eigenen Selbstausdruck finden kann – ganz im Einklang mit seinem inneren Wesen. 

Mit Freud und der beunruhigenden Erkenntnis, dass es einen Anteil in der menschlichen Psyche geben muss, der ihm nicht bewusst zu sein scheint, 9 wird zunehmend psychologisch reflektiert. Es wird damit begonnen, alte Selbstbilder und starre Glaubenssätze zu dekonstruieren: Wo vorher die äußere, materielle Freiheit verfolgt wurde, wird nun auch die innere Freiheit angestrebt. Immer unabhängiger von Herkunft, Geschlecht oder Alter.

Es zeichnet sich ab, dass der Mensch in dieser gesamten Entwicklung einen schrittweisen Prozess von zunehmender Komplexität und Möglichkeits-Vielfalt erfahren hat. Wo er sich zunächst in einer stämmischen Zugehörigkeit wiedergefunden hat, durchlebt er später eine Emanzipation von engmaschigen Stammesregeln und -Gesetzen. Mit der Zeit erfährt er immer mehr Selbstwirksamkeit und ein wachsendes Maß an individueller Freiheit. Er erlangt ein Bewusstsein für eine grundlegende Menschen-Gleichheit, die auf etwas Fundamentalerem, als der Glaubenszugehörigkeit, des gesellschaftlichen Standes oder der Geschlechtsidentität beruht.

Wo in der anfänglichen kulturellen Entwicklung noch Wissens- und Glaubenssysteme auf Mythen und Erzählungen der Stammesältesten beruhten, werden sie später um moralische Regelwerke zur Gesellschaftsbildung (wie z.B. Teile der Bibel) ausgebaut. Bis diese wiederum durch zweckorientierte Betrachtungsweisen und egalitäre Rechtssysteme erweitert und ersetzt wurden, was unter anderem dazu führte, dass sich die Lebensqualität einer größeren Bevölkerung immer weiter verbesserte. 
Sei das durch politische Systeme, die ihren Mitgliedern zunehmende Sicherheit, Ordnung und Versorgung ermöglichen wollen oder durch die fortlaufende Entwicklung von Beteiligungsmodellen, die die individuellen Bedürfnisse sämtlicher Teilnehmer in Bereichen von Wirtschaft und Demokratie einbringen wollen. 

So stehen dem Einzelnen eine Vielzahl an Optionen in einer Gleichzeitigkeit zur Verfügung, die es für eine derart breite Masse zuvor noch nicht gegeben hatte. 

Entweder oder wird zu sowohl als auch

Im geschichtlichen Verlauf entwickelte sich eine zunehmende individuelle Freizügigkeit mit einem erhöhten Möglichkeits- und Verwirklichungsbewusstsein. Sei das in Gesellschaft, im Arbeitsleben oder in der Innenwelt des Einzelnen.

Wir können nicht nur soziale Sicherheit und materiellen Wohlstand erfahren, sondern uns darüber hinaus eine intime Freiheit erobern und uns nach unseren Gefühlen, Sehnsüchten und Bedürfnissen entfalten. Das Individuum scheint nicht mehr nur eine Bedeutung zugeschrieben zu bekommen – es ist imstande, sich selbst eine Bedeutung zu schaffen. Sein Selbstbezug ist enorm gestiegen – es kann sich selbst formen und gestalten. Es schafft sich als Wesen seiner Handlungen, die sich in einer scheinbar maßlosen Freiheit nicht zu erschöpfen scheinen. 10

Nach der ersten großen Emanzipation des Menschen aus der Natur war unser Leben nicht mehr an Stammespflichten gebunden.
Nach dem Abstieg der Religion wich der Glaube an Gott dem Glauben an das Individuum.
Durch die Mehrung von Besitztümern sowie der Erschöpfung in Leistung eröffneten sich dem Menschen neue Wege der Sinnsuche.
Immerzu entwickelten sich neue Freiheiten der Sinnstiftung, die den Menschen aus kulturellen und individuellen Fixierungen und Hemmungen in immer größere Freiheiten der Selbsterfahrung führten.

Mit diesen Freiheiten kommen kollektive Überzeugungen auf

Zum Beispiel, dass jeder seines Glückes Schmied sei.
Jeder hat selbst zu verantworten, ob er glücklich ist, oder nicht. Ob er sein Glück erzeugt oder nicht. Sein Leben in die Hand nimmt oder nicht.

Die Chance der Selbsterkenntnis und -Entfaltung wird fast zu einer Forderung, mit der der Mensch das schwere Gewicht träg, sich selbst zu finden und zu verwirklichen. Wobei er gänzlich zu verantworten hat, wer er ist wird.

Beispielsweise zu wenig aus dem eigenen Leben zu machen – es nicht auszufüllen. Die Sorge, in Gewöhnlichkeit unterzugehen – sich nicht hervortun zu können. Oder die Sorge, eine Chance zu verpassen und als individualistischer Einzelkämpfer in dem Ringen um die eigene Verwirklichung zu vereinsamen. 
Solche wachsenden Selbstsorgen zeigen die Begrenzungen, die in der Forderung nach der Freiheit jedes Individuums liegen.

Maßlose Individualität und Ich-Design 

Ist die Selbstbestimmung in scheinbar grenzenloser Freiheit auf den Individuumsgedanken fixiert, wird Selbstreflexion zu einem endlosen Selbstzweck. So werden die eigenen Phänomene an den eigenen Phänomenen bemessen: Die eigene Sehnsucht an der eigenen Sehnsucht, der eigene Schmerz an dem eigenen Schmerz und die eigene Vergangenheit an der eigenen Vergangenheit. Ein grenzenloses Spiel in Selbstschleife mit der Gefahr der Selbst-Isolation.  

Nur ist Selbst-Reflexion per se ein selbst-isolierendes Unterfangen von Menschen, die zu viel Freiheit haben? 

Sich zu korrigieren und sich selbst mitsamt den eigenen Motivationen und Intuitionen zu hinterfragen, kann uns eine aufrichtige Selbstgewissheit schenken. Und mit gesteigertem Selbstbewusstsein, im Sinne von sich seiner selbst bewusst zu sein, können wir uns wesentlich selbstsicherer vertreten. Wir können in der Lebensgestaltung selbstbestimmter Orientierungspunkte setzen und vielfältige Erfahrungen der Selbstverwirklichung machen. 

Nur kann gesteigerte individuelle Freiheit leicht in einem egozentrierten und endlosem Individualismus münden. Genießen wir uns zu sehr in erhöhter Selbstfreiheit, besteht die Gefahr, von uns selbst absorbiert zu werden und sich ein Übermaß an Verantwortung zu geben, wodurch sich Selbstsorgen entwickeln können. 

Wird der, der sich selbst als freies Einzelwesen sieht, auch wirklich große Freiheit erfahren? Sind wir so frei, die Grenzen unsere eigene Freiheit zu hinterfragen? 

Weiterführende Artikel:  

Ich ver…. Wir verwirklichen uns. 

Anmerkungen:

Selbstverständlich können wir nicht sagen, dass die beschriebenen Trends gleichsam für alle Menschen aus sämtlichen Gesellschaften gelten. Auch heute haben Individuen bspw. mit hemmenden Umständen wie Ausbeutungen, Rassismen, Sexismen und weiteren Ausgrenzung zu kämpfen. Kriege prägen den Lebensalltag von unzähligen Menschen und nach dem Demokratieindex 2021 leben ca. 46 % Menschen weltweit in demokratisch organisierten Gesellschaften und ca. 37 % in Diktaturen. 11 Ich möchte im ersten Teil dieses Artikels lediglich Entwicklungstrends aufzeigen, die sich über die letzten Jahrhunderte in den „Spitzen“ der Gesellschaften abgebildet haben und mit der Zeit in eine immer breitere Masse gewirkt haben. Und immer noch wirken. Wie eingangs erwähnt, verstehe ich Bewusstwerdung als einen dynamischen Prozess, in dem immer wieder Handlungsmuster reflektiert werden und in Abhängigkeit zu den aktuellen Lebensumständen weiter entwickelt werden. Dieser Prozess ist nicht linear, sondern „Vor-“ und „Rückschritten“ auf individueller und auf gesellschaftlicher Ebene unterworfen.

Quellen:  

  1. Vgl. Beck, Prof. Don Edward, Teddy Hebo Larsen, Sergey Kolonien, Rica Cornelia Viljoen, Thomas Q Johns, (2019) Spiral Dnymamics in der Praxis: Der Mastercode der Menschheit. S. 45
  2. Vgl. Beck, Prof. Don Edward, and Cowan, Christopher C.. Spiral Dynamics: Mastering Values, Leadership and Change. Deutschland, Wiley, 2014. S. 142
  3. Vgl. Hoffmann, Emil. Lexikon der Steinzeit. Deutschland, Books on Demand, 2012. S. 212
  4. Vgl. Ehrmann, Dr. Wilfried. Vom Mut zu wachsen: Die sieben Stufen der Integralen Heilung (Integrale Reihe) (German Edition) . J. Kamphausen Verlag. Kindle-Version. 
  5. Vgl. Ehrmann, Dr. Wilfried. Vom Mut zu wachsen: Die sieben Stufen der Integralen Heilung (Integrale Reihe) (German Edition) . J. Kamphausen Verlag. Kindle-Version. 
  6. Vgl. Rabe, Horst. Reich und Glaubensspaltung, Deutschland 1500-1600. Deutschland, C.H. Beck, 1989. S. 107
  7. Spät, Patrick (2016) Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetischs, in: Zeit.de https://www.zeit.de/karriere/2016-11/martin-luther-reformation-arbeit-kapitalismus, letzter Zugriff 27. April 2020)
  8. Vgl. Ehrmann, Dr. Wilfried. Vom Mut zu wachsen: Die sieben Stufen der Integralen Heilung (Integrale Reihe) (German Edition). J. Kamphausen Verlag. Kindle-Version.
  9. Vgl. Roth, Wolfgang. C.G. Jung verstehen: Grundlagen der Analytischen Psychologie. Deutschland, Patmos-Verlag, 2020. S. 18
  10. Foucault, Michel. Sexualität und Wahrheit: Die Sorge um sich. Deutschland, Suhrkamp Verlag, 1986. S.57
  11. Democracy Index 2021: the China challenge. Abgerufen am 25. Oktober 2022 (britisches Englisch).