Ich ver… Wir verwirklichen uns

Wie können wir ein selbstbestimmtes Leben führen, in dem wir das, was wir wollen und was uns entspricht, auch im Außen realisieren? Und wie können wir dabei unseren Mitmenschen mit einer Offenheit begegnen, die über die eigene Ich-Perspektive hinausgeht, diese zugleich aber immer mit einbezieht?

Sich zu verwirklichen meint, den eigenen Wesenskern in die äußere Realität zu tragen. In der Welt mitzuwirken und sie aktiv zu gestalten. Es meint, einen Weg gemäß seiner eigenen Ziele und Wünsche zu beschreiten. Frei von Anpassungs- und Abhängigkeitsverhältnissen! Tun, was man will! Frei von Limitationen, wie Fremdbestimmung! Egal, wo diese sich zeigen könnte: ob in ermüdenden Arbeitsverhältnissen, einengende Partnerschaften oder weniger freien Familiensystemen. 

Nur kann diese Freiheit auch limitieren? 

Wie kann der Wunsch nach Freiheit mit Bedürfnissen nach Kontakt und nach intimem, lebendigem Austausch einhergehen? Und muss die ersehnte Freiheit der Selbstverwirklichung, auch wirklich in einer erfahrbaren Lebendigkeit münden? Schauen wir uns zunächst grundlegende Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben an. 

In Selbstbestimmung 

Ein Leben in Selbstbestimmung setzt voraus, dass wir wählen können, wie wir unser Leben führen möchten. Auch dann, wenn wir Fremdbestimmung begegnen sollten. Hierzu brauchen wir eine Klarheit über uns selbst, unsere Wünsche, unsere Ansichten und unsere Werte. Eine Selbst-Klarheit, die uns auch vor Einflüssen, wie beispielsweise weniger dienlichen Bewertungen anderer schützen kann. 1 Für diesen Schritt ist eine gründliche Innenschau notwendig: Was sind die Werte und Ziele, nach denen wir uns orientieren wollen? Was sind die Motivationen, hinter unseren Motivationen – was treibt uns grundlegend an? Was sind unsere Bedürfnisse und was für eine Haltung haben wir unserer Gefühlen gegenüber?

Doch selbst, wenn wir uns in- und auswendig kennen und zu jeder Zeit einen klaren Willen formulieren können: führt steigende Selbstbestimmung auch unweigerlich zu gestiegener Lebendigkeit?

Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes und lebendiges Leben

Auch, wenn das Gegenteil ein modernes Postulat ist: wir haben nicht auf alles Einfluss. Wir können nicht kontrollieren, was für Hindernisse auf unserem Weg auftauchen. Wir können nicht in jeder Beziehung Intimität und Distanz nach unseren eigenen Bedürfnissen gestalten. Und wir können nicht beeinflussen, wer oder was uns morgen oder übermorgen vielleicht zu ganz neuer Inspiration verhelfen wird. Ebenso wenig haben wir Einfluss auf unsere Herkunft – weder auf die Kultur, in die wir hineinwachsen, noch auf die Familie, in der wir aufwachsen. 

Es gehört mit dazu, mit unveränderbaren Aspekten des Lebens umzugehen. Es gehört mit dazu, dass unser Wille nicht immer durchsetzbar.

Erkennen wir das an und tolerieren auch weniger positive Erfahrungen (anstelle sie best möglichst zu kontrollieren) steht einer lebendigen und erfüllten Selbstverwirklichung nichts im Weg. Denn je größer der Rahmen, in dem wir Gefühle da sein lassen können – so glücks-erfüllt-positiv oder frustrierend-negativ sie auch sein mögen, desto größer auch der Rahmen unserer Erfahrung. Und damit auch das Maß unserer Lebendigkeit. 

Dazu gehören verschiedene Qualitäten. Beispielsweise die Fähigkeit der Frustrationstoleranz, die uns bei auftauchenden Hindernissen weiter am Ball bleiben lässt. 2 So groß die zwischenzeitige Entmutigung über Rückschläge auch sein mag. Ebenso gehört auch die Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz dazu: zwei Seiten einer Medaille zu ertragen – Zweifel auszuhalten. Gar nicht in einem, erleidenden Sinne, sondern vielmehr in einem entschlossenem, fühlenden Sinne. Und es gehört dazu, Toleranzen für Emotionen zu entwickeln und Gefühle auszuhalten. Auch, wenn sie uns unangenehm erscheinen mögen. 

Wollen wir dazu auch noch einen Erfahrungsaustausch im Kontakt mit anderen eingehen, bedarf es noch etwas Weiterem 

Es bedarf mehr als nur den Blick auf das eigene Bewusstsein, den eigenen Erfolg und die eigene Gefühlstoleranz. Es bedarf auch eines Blickes um uns herum. Beschäftigen wir uns immerzu nur mit unserer eigenen Selbstverwirklichung, werden wir auf lange Sicht an eine bestimmte Grenze stoßen: uns selbst. Denn gibt es nicht nur mein eigenes Bewusstsein, es gibt auch eine kollektive Intelligenz. Es gibt nicht nur meine eigene Moralvorstellung, es gibt auch kulturelle Werte. Und es gibt nicht nur meinen eigenen Erfolg, es gibt einen gemeinschaftlichen Fortschritt. 

Ob er es einsieht oder nicht: Der Mensch steht unweigerlich in Beziehung zu seiner Umwelt, die seine Selbsterfahrung enorm beeinflusst. Denn wie könnten wir ohne den Austausch intimer Reize Lust und Erfüllung erfahren werden? Wie könnten wir ohne positive Rückmeldungen das stärkende Gefühl von Selbstwirksamkeit erleben? Wie könnten wir ohne Inspiration durch andere unsere eigene Kreativität entfalten? Und wie leer würden unsere Selbsterzählungen sein – ohne die lieben und manchmal auch weniger lieben Mitmenschen.

Ein überstarker Individualismus

Ein Diktat der Freiheit ist die Individualität. Beruft diese sich nicht auch auf die Möglichkeit der Verbundenheit, des Miteinander und damit auch auf eventuelle Abhängigkeiten, birgt sie die Möglichkeit der isolierenden Egozentriertheit. Denn ein überstarker Individualismus, der sich von sämtlichen Bindungen abzugrenzen versucht, wird sich isolieren. Ein Mensch wird sich nur noch in sich selbst spiegeln und erkennen können. Eine ersehnte selbstbestimmte Freiheit in gänzlicher Unabhängigkeit würde in ihrer Zuspitzung zu einer langweiligen Einsamkeit führen. 

So stellt sich nicht nur die Frage, wie wir ein selbstbestimmtes Leben führen können, in dem wir das, was wir wollen und was uns entspricht, effektvoll im Außen realisieren können. Es stellt sich auch die Frage, wie wir unseren Mitmenschen, mit einer Offenheit begegnen, die über die eigene Ich-Perspektive hinausgeht, sie aber dennoch mit einbezieht. Damit jeder seine ganz eigenen Antworten darauf finden kann, nähern wir uns im Rahmen der Charakter-Fibel unterschiedlichsten Fragen, die nicht nur Bezug auf die Verwirklichung unserer selbst nehmen, sondern auch die unseres Miteinanders. 

Was ist mitfühlendes Verständnis und wie kann es realisiert werden – frei von spirituellen Dogmen? Wie zelebrieren wir zusammen mit anderen unsere individuellen Besonderheiten? Was sind die Grenzen der eigenen Handlungsspielräume und wie gehen sie mit der eigenen Fähigkeit einher, tiefes Verständnis für die Realität unserer Mitmenschen zu entwickeln?  

Große Fragen, deren Antworten wir gewiss nicht für uns alleine finden, aber denen wir uns in einem gemeinsamen Austausch annähern können.

Quellen:  

  1. Vgl. Bieri, Peter. Wie wollen wir leben?. Deutschland, Dt. Taschenbuch-Verlag, 2013. S. 31.
  2. Vgl. Medizinische Psychologie. Deutschland, Springer Berlin Heidelberg, 2013. S. 181.