Durch bewusste Wahrnehmung können wir Selbsterkenntnis erlangen – Grundlage für ein selbstbestimmteres Leben. Nur wie funktioniert der Prozess der Selbsterkenntnis? Welche Faktoren spielen bei einer effektvolle Innenschau eine Rolle? Und wieso kann uns hierbei eine facettenreiche und offene Sprache dienlich sein? Und wieso bloße Achtsamkeit uns hierbei nicht weiter helfen wird.
Unterschiedlichste Erfahrungen und Umstände können uns als Impulse dienen, uns zu hinterfragen. Manchmal können es die alltäglichsten Dinge sein. Zum Beispiel, wenn wir uns fragen, mit wem wir in der kommenden Woche mehr Zeit verbringen möchten. Oder wenn wir in hitzigen Diskussionen ergründen wollen, wieso wir Nutella selbstverständlich immer ohne Butter essen. Oder wenn wir uns Abends auf dem Weg nach Hause fragen, was uns heute so gestresst hat. (Vielleicht ja die Frage, ob der, die oder das Nutella…?)
Es können aber auch grundlegendere Auslöser sein, die uns zur Selbstprüfung motivieren. Wenn wir erkennen, dass es in unserem Leben Bereiche gibt, die wir nicht so leicht überwinden können. Wenn wir äußeren oder inneren Widerständen begegnen. Oder wenn wir bemerken, dass wir unsere Energien nicht konzentriert bündeln können und effektvolle Handlungen ausbleiben. Vielleicht ja, weil wir in einem Konzept feststecken, dass unsere Flexibilität begrenzt?
„Wieso hole ich mir immer wieder einen ähnlichen Partner in mein Leben, mit dem es an einem bestimmten Punkt immer wieder hakt?“
„Wieso kann ich nicht einfach gelassener mit meinen Kindern umgehen?“
„Wieso rutsche ich immer wieder in Abhängigkeiten, möchte ich in Beziehungen doch souveräner und selbstbestimmter sein?“
Und manchmal gibt es vielleicht gar keinen bestimmten Auslöser, der uns dazu bewegt, nach innen zu schauen. Manchmal kann es nur eine diffuse Sehnsucht sein, mehr über uns wissen zu wollen. Mehr darüber, wie wir eigentlich gestrickt sind.
Was auch immer der Anlass sein mag – weiten wir unser Bewusstsein um Selbsterkenntnisse, können wir die Scheuklappen unserer Konzepte weiten, womit sich uns ein Weg für eine größere gedankliche und emotionale Freiheit eröffnet. Eine Freiheit, die uns viel eleganter und intensiver auf den Wellen unseres Lebens surfen lassen kann.
Dabei kann Bewusstsein durch verschiedene, sich ergänzende Prozesse erhöht werden. Nämlich durch das Gewahrsein der inneren Erfahrungen und der Bewusstwerdung von Aspekten, die durch bloßes Gewahrsein nicht erforscht werden können.
Kurzum: durch schrittweises Erfahren und Unterscheiden.
Erfahren
Indem wir uns achtsam unserer aktuellen Erfahrung zuwenden, können wir uns unsere Wahrnehmungsinhalte verdeutlichen. Einer von Deinen aktuellen mag die Atembewegung in der Brust sein. Oder eine Ruhe, eine Freude oder vielleicht eine leichte Neugierde.
„Der Mensch spürt nur den Unterschied.“
– Sigmund Freud
Unterscheiden
Und ob wir gerade eine heitere oder lethargische Ruhe empfinden, tiefe Freude oder eine Glückseligkeit, eine euphorische Spannung oder lediglich die Atembewegung in der Brust, hängt von unserer Fähigkeit ab, diese Wahrnehmungen zu benennen und sie so voneinander unterscheiden zu können. 1 Das hängt wiederum von unserem Wortschatz und von der Fähigkeit zu formulieren ab.
Im nächsten Schritt können wir dann entdecken, wie wir mit unseren formulierten Erfahrungen umgehen:
Wie reagiere ich auf diese heitere Ruhe oder diese euphorische Neugierde? Wie ist meine Haltung zu diesen Wahrnehmungen? Was für Gefühle zeigen gehen damit einher?
So können wir uns über unsere Körperempfindungen, Gefühle und Interpretationsmuster gewahr werden, die wiederum weitere Gedanken, Gefühle und Empfindungen auslösen. Dabei bietet gesteigerte Achtsamkeit über die eigenen inneren Erfahrungen nicht nur die Chance, unser Erleben intensivieren zu erfahren. Und so Lebendigkeit zu steigern. Sie bietet auch die Möglichkeit, einen verständnisvolleren Umgang mit uns selbst zu erlangen. Ein Verständnis, das erfasst, was uns genehm ist, was uns widerstrebt, wie wir innerlich auf eine Freude oder einen Unmut reagieren.
Mehr als reines Gewahrsein
Nur endet der Prozess der Bewusstwerdung nicht bei der achtsamen Erfahrung innerer Phänomene.
Auf der Ebene des reinen Gewahrseins können wir uns verdeutlichen, was wir erleben. Doch wie bekommen wir eine Bewusstheit darüber, wie wir erleben?
Wie erkennen wir das, was unsere Aufmerksamkeit lenkt und so unsere Wahrnehmung beeinflusst? Wie erkennen wir die Motive hinter unseren wahrnehmbaren Motiven? Und wie können wir ein Gespür für die Gründe bekommen, wieso wir beispielsweise manche Beziehungsdynamiken immer wieder erneut erfahren, wieso uns in gewissen Situationen weniger Gelassenheit zur Verfügung steht, als uns lieb ist oder weshalb unsere Bedürfnisse von Geborgenheit mit denen der Selbstbestimmtheit aneinander geraten.
Die Rede ist also nicht nur von einem Zugang zu bewusst-wahrnehmbaren Inhalten. Sondern auch von einem Zugang zu überwiegend unbewussten Aspekten der eigenen Psyche. Aspekte, die sich nicht in der unmittelbar bewussten Wahrnehmung zeigen, 2 sondern solche, die hinter den wahrnehmbaren Phänomenen liegen.
Die Charakter-Fibel
An diesem Punkt möchte die Charakter Fibel abholen. Sie möchte Dir nicht nur einen umfangreichen Wortschatz zur Innenschau aufzeigen. Die Charakter Fibel möchte auch Methoden vorstellen, mit deren Hilfe Du Dich noch gründlicher durchleuchten kannst. Dazu gehören Wahrnehmungsmuster, die grundlegend für die Interpretation und den Umgang mit Deiner inneren und äußeren Welt sind. Es werden Charaktertypen vorgestellt, in die Du Dich selbst einordnen kannst – wodurch Deine tiefer liegende Grundmotivationen erkennbarer werden. Und es werden Ansätze präsentiert, wie Du fundamentale Mechanismen hinter wiederkehrenden Lebensmuster erkennen und verantwortungsvoll antizipieren* kannst – ohne ihnen unterliegen zu müssen.
Ohne dabei ein vereinfachtes Schubladendenken zu verfolgen. Sondern die individuelle Natur einer jeden Persönlichkeit zu berücksichtigen. Ohne zu intellektualisieren und zu psychologisieren. Sondern systematisch und verständlich Bezug auf die Lebenserfahrung des Lesers, der Leserin nimmt. Und ohne den Wunsch, innere psychische Aspekte zu verdrängen oder zu manipulieren. Sondern sie vielmehr zu integrieren.
Auch, wenn es bei Dir nur um den Aspekt gehen sollte, zu akzeptieren, dass Dein Gegenüber am Frühstückstisch wirklich Nutella auf Butter schmiert.
Viel Freude 🙂
Quellen:
- Vgl. Geuter, Ulfried. Praxis Körperpsychotherapie: 10 Prinzipien der Arbeit im therapeutischen Prozess. Deutschland, Springer Berlin Heidelberg, 2018. S. 111 ff.
- Vgl. Dorsch – Lexikon der Psychologie. Deutschland, Hogrefe AG, 2019. S. 300.
*ein schlaues Wort für vorwegnehmen